Gilt garantiert nur in Berlin. In Tübingen sind sie sicher
Man darf in Tübingen nichts von Fahrradunfällen auf Straßenbahnschienen erzählen. Sonst gibt es kollektive Schläge von den Befürwortern der Innenstadtstrecke der Regionalstadtbahn. Die angebliche Verbreitung von Fake News gehört dann noch zu den harmlosen Vorwürfen.
Eine Zeit-Redakteurin “wickelte es” unlängst auf nassen Schienen. Sie stellte überrascht fest: Fahrradunfälle passieren offensichtlich fast allen und fast allen auf Straßenbahnschienen.
https://www.zeit.de/…/benachteiligung-strassenverkehr…
Zwei zentrale Absätze aus dem Artikel hier
(der ganze Artikel folgt am Ende des Posts unten am Stück):
>> Ich also in die Redaktion, Dreck im Gesicht, Knie aufgeschlagen. Da sagen alle: Aaah, Tramschienen. Hatten alle auch schon, und auch deren Kinder und Ehepartner und Freunde. Nach einer Stunde wird mir übel, ein Kollege sagt: Vielleicht zum Arzt. Ich also in die Charité. Die Ärztin sagt: Ach, der Klassiker. Ich texte einem Interviewpartner, den ich eigentlich am Nachmittag sprechen wollte: Können wir verschieben, wegen Radunfall, wegen Tramschienen? Er erzählt mir später: Zwei seiner Mitarbeiterinnen haben sich dieses Jahr schon langgelegt, auf die gleiche Weise. Eine verlor einen Zahn.
Fast alle Menschen, von denen ich weiß, dass sie prägende, schmerzhafte Fahrradunfälle hatten, nennen dafür den gleichen Grund: Tramschienen. Ich bin in meinem Erwachsenenleben jetzt zweimal vom Rad gefallen, beide Male wegen Tramschienen. Wobei: Ein weiteres Mal bin ich an einer Ampel umgefallen, weil ich im Stand das Gleichgewicht verloren habe. Das war aber eher lustig für alle Umstehenden und tat nicht weh. Bei den Tramschienen tat es weh. <<
So, hier kommt gleich noch der ganze Artikel, damit niemand sagt, wir verschweigen einen Teil des Textes (“fake news” und so). Der zutreffende Vorschlag der Redakteurin, den Rädern eine eigene Spur abseits der Schienen zu geben, geht leider in der engen Tübinger Innenstadt nicht. Das ist einer der Gründe, weshalb sie nicht in die Innenstadt gehört.
>> Ich muss Ihnen von einem Unfall erzählen. Montagmorgen, auf meinem Weg in die Redaktion. Eine Straße in Berlin-Mitte, rechts parken Autos, in der Mitte fährt eine Tram. Ich auf dem Fahrrad, zwischen den Tramschienen, will geradeaus weiter, aber die Tramschienen machen eine Linkskurve. Straße ist nass. Herbst. Ich fahre geradeaus, muss dabei einmal ganz kurz mit den Reifen über die Schienen. Mache ich jeden Tag. In diesem Fall: Vorderrad rutscht nach links weg, Hinterrad rutscht mit, ich fliege ein paar Meter weit um die Kurve, lande auf Knie, Arm und Kinn. Eine Frau und zwei Männer heben mich auf. Alles okay? Die Frau gibt mir Taschentücher ohne Grund. Man gibt fremden Menschen immer Taschentücher, wenn sie Schmerzen haben, dabei hilft das nie.
Ich also in die Redaktion, Dreck im Gesicht, Knie aufgeschlagen. Da sagen alle: Aaah, Tramschienen. Hatten alle auch schon, und auch deren Kinder und Ehepartner und Freunde. Nach einer Stunde wird mir übel, ein Kollege sagt: Vielleicht zum Arzt. Ich also in die Charité. Die Ärztin sagt: Ach, der Klassiker. Ich texte einem Interviewpartner, den ich eigentlich am Nachmittag sprechen wollte: Können wir verschieben, wegen Radunfall, wegen Tramschienen? Er erzählt mir später: Zwei seiner Mitarbeiterinnen haben sich dieses Jahr schon langgelegt, auf die gleiche Weise. Eine verlor einen Zahn.
Fast alle Menschen, von denen ich weiß, dass sie prägende, schmerzhafte Fahrradunfälle hatten, nennen dafür den gleichen Grund: Tramschienen. Ich bin in meinem Erwachsenenleben jetzt zweimal vom Rad gefallen, beide Male wegen Tramschienen. Wobei: Ein weiteres Mal bin ich an einer Ampel umgefallen, weil ich im Stand das Gleichgewicht verloren habe. Das war aber eher lustig für alle Umstehenden und tat nicht weh. Bei den Tramschienen tat es weh.
Fahrradunfälle wegen Tramschienen sind genau das, was benachteiligten Gruppen im demokratischen Kapitalismus regelmäßig passiert: Sie leiden darunter, dass ihre Interessen nicht erfüllt, sondern stattdessen gegeneinander ausgespielt werden. Geflüchtete gegen Arbeitslose, Umweltschützer gegen Menschen im ländlichen Raum. Und natürlich wäre es die simpelste Forderung, dass Tramschienen nur dort entlanglaufen sollen, wo sie Radfahrer und Fußgänger nicht gefährden. Aber das wäre auch die dümmste Forderung, denn dann kämen viele Menschen nicht mehr dorthin, wo sie hinmüssen.
Wer während einer Pandemie mit dem öffentlichen Nahverkehr fährt, tut das wahrscheinlich, weil er sich kein Auto leisten kann. Für Radfahrer gilt das Gleiche – oder sie meinen, der Atemluft, dem Gesundheitssystem und sich selbst auf lange Sicht durchs Radfahren am meisten zu helfen. Das “Richtige” zu tun. Aber die miese Nachricht für alle ökonomisch Benachteiligten und Gutmenschen ist: Je weniger man der Welt schadet, desto mehr schadet die Welt einem. Man fängt sich in engen Trams Krankheiten ein, man prellt sich den Kopf am Asphalt.
Gäbe es eine Sache im Straßenverkehr, die Autos und deren Fahrer im gleichen Maße beschädigen würde, wie Tramschienen Fahrradfahrer beschädigen, dann wäre diese Sache längst verboten. Geht ja nicht, die armen Autos, der schöne Lack. Aber die Kannibalisierung von Rad- und Tramfahrern wird nie irgendwo problematisiert. Wir nehmen sie, wie so viele Ungerechtigkeiten, als gottgegeben und unveränderlich hin.
Ich kann nicht einsehen, dass es sich finanziell (Versicherungen, Produktivitätsausfälle) und gesellschaftlich (Klima, blaue Flecke) nicht lohnen würde, diese Unfälle zu vermeiden. Es ist mir allerdings klar, warum es so schwierig ist. Weil nämlich dort, wo ich mit dem Rad weniger angsterfüllt entlangfahren könnte, also neben den Tramschienen statt dazwischen, schon jemand Raum einnimmt: Autos, die herumstehen. Parkplätze sind in Großstädten wichtiger als die Schädel von Radfahrerinnen. Ist so. Ich sitze jetzt seit einer halben Stunde vor diesem Textende und denke über eine lustige, erlösende Pointe nach. Finde keine. Liegt vielleicht an der Kopfverletzung. Somit hat dieser Sturz nun auch noch Ihnen geschadet. <<