17. Juni 2017
Die Menschenrechtsaktivistin Ensaf Haidar ist derzeit in Tübingen. Und über hundert Tübinger sangen auf dem Holzmarkt laut mit: Die Gedanken sind frei! Das 150 Jahre alte Lied hat an Aktualität nichts eingebüßt!
“Die Gedanken sind frei,
wer kann sie erraten,
sie fliehen vorbei
wie nächtliche Schatten.
Kein Mensch kann sie wissen,
kein Jäger erschießen,
es bleibet dabei:
die Gedanken sind frei!
Und sperrt man mich ein
im finsteren Kerker,
das alles sind rein
vergebliche Werke;
denn meine Gedanken
zerreißen die Schranken
und Mauern entzwei:
die Gedanken sind frei.”
Die Frau des in Saudi-Arabien inhaftierten Bloggers Raif Badawi nahm an mehreren Solidaritäts-Veranstaltungen in Tübingen teil. Anlass der Einladung Ensaf Haidars ist der fünfte Jahrestag der Verhaftung ihres Mannes. Das zweitägige Programm wurde vom Weltethos-Institut und zahlreichen weiteren Tübinger Institutionen getragen. Unter anderem fand am Samstagvormittag auf dem Tübinger Holzmarkt, wie üblich jede Woche, von 11 bis 12 Uhr eine Mahnwache statt, bei der auch Ensaf Haidar sprach. Es war die 131! Einzelne Bürger wie zum Beispiel Verena und Max Steinacher, Eva Scheerer, Almut Schüz, Rainer Siegle und Christopher Gohl sammeln wöchentlich Unterschriften und wollen bis zur Freilassung durchhalten.
“Auch unsere eigene Meinungsfreiheit muss wachsam verteidigt werden!”
Ernst Gumrich begrüßte im Namen der Stadt und des Gemeinderats die standhafte zierliche Frau aus Saudi Arabien: “10 Jahre Haft und 1000 Stockschläge für nichts anderes als die freie Meinungsäußerung in einem liberalen Blog; dazu auf internationaler Ebene die aktuelle Umarmung des Herrschaftssystems in Saudi Arabien – dafür gibt es kaum angemessene Worte. Außer, dass wir in Tübingen sehr stolz sind auf eine so unbeirrte Gruppe. die gegen einen schlimmen Fall der millionenfachen Unterdrückung der freien Meinungsäußerung auf der Welt jeden Samstag am Holzmarkt aufsteht. Und zugleich damit für die Bewahrung unserer eigenen Meinungsfreiheit eintritt, denn auch in unseren westlichen Demokratien – aktuell mehr denn seit langem – muss sie wachsam verteidigt werden. Sie droht gerade unter die Räder zu kommen …
Der Blick in die Augen der Kinder, Raifs und Ensafs Kinder, die inzwischen mit der Mutter im kanadischen Exil leben und die ihn seit fünf Jahren nicht mehr sehen konnten und ihre wenigen selbst geschriebenen wenigen Worte sagen es besser als unsere 1.000.“
Humanismus und Aufklärung hat in Tübingen Tradition
Für ihren Mann sei es eine große Hilfe zu wissen, dass jemand an ihn denke und ihn unterstütze, sagte Haidar. Sie appellierte an den saudischen König ihren Mann freizulassen. Andere Redner, z.B. von Amnesty International betonten, dass Aufklärung, Humanismus und Weltverantwortung in Tübingen Tradition haben. Man werde mit Badawi weiterhin für Meinungsfreiheit und Menschenrechte kämpfen.
130 Mahnwachen
In Tübingen hat man in zweieinhalb Jahren mittlerweile 130 Mahnwachen abgehalten. Denn der Familienvater sitzt seit genau dieser Zeit in Saudi-Arabien im Gefängnis, weil er sich kritisch über die dortige Religionspolizei geäußert hat. Von den 1000 Peitschenhieben wurden ihm vor 18 Monaten 50 verabreicht, worauf der Gefängnisarzt um Aufschub bat…
“Besonders rührend”
Jede Unterstützung sei willkommen und wichtig, sagte Haidar im SWR-Interview vorab. Egal, in welcher Form und von wem. Viele Organisationen wie Amnesty International oder das Tübinger Weltethos-Institut helfen bereits . Aber sie finde es “besonders rührend, wie sich einzelne Personen für uns einsetzen”.
Spendenaufruf „Tübingen für Familie Badawi“ an das Konto der Stiftung Weltethos, Verwendungszweck „Spende Badawi“: Konto-Nr. 3306000 – Kreissparkasse Tübingen – BLZ 641 500 20, IBAN: DE97 6415 0020 0003 3060 00 – BIC: SOLADES1TUB.
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Hier die Rede von Ernst Gumrich im Wortlaut:
“Die Mahnwachen-Gruppe bat mich, als eine Stimme der Stadt ein paar Worte zu sagen,
Dankbar bin ich und geehrt, heute hier stehen zu dürfen, an diesem schlimmen Tag,
an dem Blogger Raif Badawi vor genau fünf Jahren, > l8oo Tagen verhaftet wurde und
seither in einem saudischen Gefängnis eingesperrt ist.
Für nichts anderes als die Wahrnehmung seines Rechts auf freie Meinungsäußerung.
So wie wir das Recht auf freie Meinungsäußerung hier heute wahrnehmen.
Anfänglich war es eine kleine Gruppe von 5 Tübingerinnen und Tübingern,
die unbeirrt jeden Samstag ab 11 Uhr am Holzmarkt stand und mit einer Mahnulache einfach erreichen wollte,
dass ein Mensch, der seine Stimme nur für diese Freiheit erhob, nicht durch das Vergessen, das Verschweigen
lebendig in einem Gefängnis vergraben wird.
Und damit, dass die Unterdrückung der freien Meinungsäußerung
nicht vergessen und irgendwann politisch oder realpolitisch abgehakt wird,
so standen und stehen sie jeden Samstag unbeirrt hier, heute zum 131. Mal.
Unbeirrt, ObWOhl: Es oft einfach kalt, oder naß oder knallheiß ist.
Und die Menschen dann noch schneller vorbeieilten.
Unbeirrt, obwohl sie einige kopfschüttelnde Blicke aushalten müssen,
die man bekommt, wenn man mit einem Pappschild am Straßenrand steht
Unbeirrt, obwohl sie auch gelegentlich entgeistert, wütend, ungeduldig, besserwisserisch an den Kopf geworfen bekommen: “Empört Euch doch lieber über dies und jene, die es noch mehr verdient haben…
Unbeirrt, obwohl – jetzt ganz aktuell – wir alle gerade erleben, wie sich die Weltpolitik gegen unsere Hoffnung zu wenden scheint, dass der Westen Saudi Arabien, sein Öl, sein Geld, seine Milliarden-Aufträge nicht kritiktos
– ungeachtet der Menschenrechtsverletzungen – umarmt.
Unbeirrt, weil sie vom Mut von Ensaf Haidar angesteckt wurde, den Kampf nicht aufzugeben und
angesteckt sind von ihrem Glauben, dass nur der Druck der Weltöffentlichkeit etwas ausrichten kann.
Unbeirrt, weil die Gruppe seit zwei Jahren spürt, dass in unserer Stadt jedenfalls der ,,Fall Badawi” immer weniger vergessen wird, und immer mehr Menschen zum Nachdenken und Mitmachen animiert werden konnten.
Unbeirrt, weil man bemerkt, dass auch in anderen Städten Menschen diesem Beispiel folgen oder
ähnliche Menschen ähnliche regelmäßige Mahnwachen veranstalten,
Unbeirrt, weil die Mahnwache beobachtete, dass diese Entschiedenheit auch bundesweit und über die
Grenzen öffentlich, medial bemerkt wird. Und das ist so wichtig! Sigmar Gabriel setzte sich vor Ort ein.
Unbeirrt – und das ist vielleicht sogar das Allerwichtigste, weil Sie spüren und berichtet bekommen,
dass diese Stunde hier jede Samstag auf dem Holzmarkt auch für Raif Badawi zur gleichen Zeit im saudischen Gefängnis so ungeheuer wichtig ist.
Wir können überzeugt sein: Sie werden es unbeirrt fortsetzen, bis die Mahnwache das Ziel erreicht hat und Raif Badawi in Freiheit ist.
lnitiativen wie lhre sind Orientierungslinien, Leitstrahlen von Gesellschaften.
Sie zeigen uns Bürgern, sie lassen uns spüren, ob die,,große Politik” auf dem richtigen Weg ist. und wir der Politik, außerhalb der Parteien zeigen können, wohin wir,,hinwollen.”
Von vielen dieser ,,zivilen Leitstrahlen” des bürgerschaftlichen Engagements geht eine so viel bessere Orientierung aus als von der Suche nach erleuchteten Führern, nach säkularen oder religiösen Heilslehren oder gar nach Rettern, gar nach starken Männern. Leider keimt gerade diese gefährliche Sehnsucht auf.
Wir riechen es doch: Da ist Brandgeruch in unseren westlichen Demokratien.
Da zündeln Leute an der Demokratie, an der freien Meinungsäußerung.
Auch bei uns !!
Da werden Gegenmeinungen plötzlich zu fake news, demokratische Strukturen zum Feind, zum bösen “Deep state,” Protagonisten anderer Meinungen schnell zu “bad, bad people.”
Wir zollen auch vor diesem aktuellen Hintergrund dem bürgerschaftlichen, dem weltbürgerlichen Engagement der Badawi Mahnwache einen so hohen Respekt.
,,Stadt”, Gesellschaft, Zivilisation und Civilitas (im Sinne von Anstand) sollen in einer Stadt zusammen gehörige Begriffe sein und bleiben.
Heute sind die Bürger, zumal in einer Stadt wie Tübingen, die bis in den letzten Winkel der Welt
mit den anderen Bürgern unseres globalen Dorfes vernetzt, verbunden, befreundet.
In diesem globalen Dorf ist Raif Badawi – und durch die Mahnwache noch mehr –
unser Tübinger Mitbürger geworden.
Auf diese Stadt und eine Gruppe wie die Mahnwache für Raif Badawi bin ich als Tübinger Bürger sehr stolz.
Der Oberbürgermeister schrieb das Gleiche auf Facebook, Baubürgermeister Soehlke schickte mir vorgestern ein Foto von der Dokurnenta, das Raif Badawis Buch in einer lnstallation zeigte, mit den Wunsch, ich möge den Dank der Verwaltung für dieses große Engagement an die Mahnwache weiterzugeben.
Vor lhrer Entschiedenheit können wir uns nur verneigen. Und uns -wenn immer Zeit ist – in Zukunft am Samstag einfach daneben stellen.
Von der Weltverantwortung {Gohl} nehmen Sie einen kleinen Stein auf-…. und halten unbeirrt daran fest, tragen ihn.
Vor allem aber vor lhnen, Frau Haidar, verneigen wir uns, die diesen Kampf inspiriert und anführt,
bis lhr Mann hoffentlich bald bei lhnen und seinen Kindern sein kann.”
Vielen Dank für den Artikel über Ensaf Haidar in Tübingen.Sie liebt diese Stadt, hat sie gesagt.
Die Rede von Stadtrat Ernst Gumrich bei der Mahnwache auf dem Holzmarkt war beeindruckend.
Hoffen wir, dass König Salman zum Ende des Ramadan Raif Badawi begnadigen wird.
Vielen Dank für diese Zusammenfassung der Ereignisse für alle die welche wie ich, leider nicht dabei sein konnten. Es ist sehr beeindruckend.Und gut zu wissen, dass die Tübinger Aktion eine wirkliche Hilfe für die Familie Haidar-Badawi ist.