Reinhard von Brunn im Tagblatt vom 05.08.2020.

Boden ist knapp in und um Tübingen. Immer häufiger müssen wir uns alle mit Verteilungsproblemen befassen. Und weil es keine Patentlösungen gibt, sind die Interessen-, Ziel- und Nutzungskonflikte aufreibend.

Wäre es nach der Verwaltung gegangen und hätte es keine kraftvolle Bürgerinitiative gegeben, hätten wir heute am Aubrunnen ein Gewerbegebiet. Um ein Haar wäre Aischbach II zu Sonderkonditionen an die unrühmlich untergegangene Firma BFO vergeben worden statt an unsere heimischen Handwerker. Für die Überbauung des SWR-Areals auf dem Österberg wird ein kaum 20 Jahre alter Bebauungsplan kassiert, zu Lasten der Anwohner und städtischer Natur. In schönster Nordstadt-Aussichtslage entsteht das Cybervalley mit 3500 Arbeitsplätzen. Und wo sollen die Beschäftigten wohnen? Um das Bauen auf dem Queck-Areal zu ermöglichen, übernimmt die Stadt Altlasten-Risiken von 3 Millionen Euro. Und für die Südstadt kann man nur hoffen, dass dort, auf der letzten freien Fläche neben der Firma Möck, auch bewegungshungrige Jugendliche zum Zuge kommen und nicht nur Solarthermiepanele.

Da muss die Frage erlaubt sein, ob das die Richtung ist, in der sich Tübingerinnen und Tübinger ihre Stadtentwicklung wünschen. Unbestritten, die Wohnungsknappheit ist groß. Unbestritten, eine wirtschaftsfreundliche Haltung sichert Arbeitsplätze und Steuereinnahmen. Unbestritten, Maßnahmen gegen den Klimawandel dulden keinen Aufschub. Aber stimmt die Balance noch zwischen Wachstum und dem immer höheren Preis, den wir dafür bezahlen? Setzen wir die richtigen Prioritäten? Hält die Infrastruktur unserer Mittelstadt das aus: das Straßennetz und der öffentliche Nahverkehr, unsere Kindergärten, Schulen und Alteneinrichtungen, die Bäder und Stadtbücherei…? Was ist mit den Einbußen an Biodiversität und städtischer Lebensqualität durch weniger Grün, dafür einem Mehr an Enge, an Lärm? Stadtentwicklung ist mehr als nur Bauen. Das hat Tübingen in den letzten Jahrzehnten mit einigen guten Beispielen bewiesen. Aber wir stoßen an räumliche Grenzen. Die lassen sich auch durch Auflagen an die Bauherren nicht erweitern. Sollten wir nicht den Mut haben, auch einmal Stopp und Nein zu sagen? Kleine große Stadt – ja. Großstadt – nein! Was meinen Sie?”

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