Die Abstimmung erfolgte mit den Füßen. Weg von der Hauptschule, weg von der Realschule, hin zur Gesamtschule oder zum Gymnasium. Ob das gut ist, kann man sich fragen. Zumindest die Realschule war ein idealer Ort zur Vorbereitung auf das Handwerk. Offenbar wollen Tübinger Eltern ihre Kinder aber dort nicht sehen. Ohne Abitur, so denken viele, hat das Kind keine Chance auf dem Arbeitsmarkt. Wenn diese Eltern dann ein halbes Jahr auf den Installateur oder Schreiner warten, können sie ihre Entscheidung immer noch überdenken.
Das ist die eine falsch gestellte Weiche. Die andere: Statt die Durchlässigkeit zwischen den Schultypen weiter auszubauen, unterschiedliche Aufbau-Gymnasien zu fördern, wird das Kind mit dem Bade ausgekippt. Einheitsschule mit niedrigem Niveau à la Highschool oder althergebrachtes dreigliedriges Modell? Der Streit um die Schüler wird derzeit auf dem Rücken von Lehrern und Schülern ausgetragen.
Chefredakteur Gernot Stegert vom Schwäbischen Tagblatt sieht es so:
“Mit Schulpolitik kann man keine Landtagswahlen gewinnen, aber verlieren. Die Gemeinschaftsschule polarisiert besonders, vor allem die Einrichtung einer eigenen Oberstufe.
Tübingen hat für die Entscheidungsfindung jetzt einen Beteiligungsprozess gestartet. Ein Tübinger Schulfrieden mit praktischen Lösungen kann aber nur herauskommen, wenn an zwei Wurzeln des Konflikts herangegangen wird – eine psychologische und eine sachliche.
Man muss kein Psychologe sein, um zu erkennen, dass Vertreter unterschiedlicher Schularten sich verletzt fühlen. Befürworter der Gemeinschaftsschule haben eine Geschichte des Kampfes hinter sich, wie sie typisch für Pioniere ist. Dazu gehören die Erfahrungen, nicht für voll genommen, ja abgelehnt zu werden. Erst unter der grün-roten Landesregierung haben die Gemeinschaftsschulen eine Chance erhalten. Noch immer verdienen die Lehrerinnen und Lehrer weniger als ihre Kollegen an Gymnasien.
Auf der anderen Seite beanspruchen viele Gemeinschaftsschul-Befürworter für sich, die einzig sozial gerechte und pädagogisch fortschrittliche Schulform zu sein. Für Gymnasien werden Kampfbegriffe wie „intellektuelles Ghetto“ oder „Frontalunterricht“ verwendet. Das kränkt deren Lehrerinnen und Lehrer, die längst pädagogische Neuerungen integriert haben. Hinzu kommen die Angriffe aufs Fundament, wenn mal wieder Politiker – wie zuletzt Grüne Jugend und Linke – die Einheitsschule fordern.
Die psychologische Konfliktursache lässt sich durch mehr Respekt beheben. Anders der sachliche Grund. Die Gemeinschaftsschule setzt sich politisch in einem Zwei-Säulen- Modell mit dem Gymnasium durch. Meist aber nicht aus Überzeugung, sondern weil Bürgermeister in Gemeinden mit schwächelnden Haupt- oder Realschulen durch deren Umwandlung ihren Schulstandort erhalten.
Doch die Gemeinschaftsschule ist im Prinzip ein Einsäulenmodell oder bietet sich als vierte Säule neben dem dreigliedrigen System an. Ihr Konzept liege quer zu den anderen Schulformen, heißt es im mittlerweile veröffentlichten Zwischenbericht unter Leitung des Tübinger Erziehungswissenschaftlers Prof. Thorsten Bohl zur Gemeinschaftsschule im Land. Von der Pädagogik des gemeinsamen Lernens bis zum verbindlichen Ganztagsbetrieb – gerade die Besonderheiten erschweren den Wechsel von Schülern und stehen im Widerspruch zum faktischen Zwei-Säulen-Modell.
Wie dieses dennoch zum Wohle der Schülerinnen und Schüler gestaltet werden kann, das müssen Experten herausfinden. Ob auch eine eigene Oberstufe für die Gemeinschaftsschulen nötig ist, das wird in Tübingen im – hoffentlich ergebnisoffenen – Prozess zu klären sein. Auf jeden Fall würde ein besseres Miteinander helfen – beim Nachdenken und im Schulalltag.” Tagblatt, 28.11.15
Ein Wunschbild
Seit zwei Schuljahren baut die Ofterdinger Burghof-Schule eine Gemeinschaftsschule auf. Mit einem Tag der offenen Tür präsentierte sich die Schule, bei einer Podiumsdiskussion ging es um die Frage: “Gemeinschaftsschule: Startbahn oder Sackgasse?” (23. November).
In der Präsentation der Burghof-Schule in Ofterdingen wurde die neue Schulform “Gemeinschaftsschule” nach dem Bericht in den leuchtendsten Farben dargestellt. Es wird behauptet, dass dort im Prinzip alles besser als an den Werkrealschulen, Realschulen und Gymnasien sei: “Die Gemeinschaftsschule ist eine leistungsstarke Schule.” (Das ist doch wohl zu bezweifeln, denn an der Gemeinschaftsschule gibt es keine Zeugnisnoten mehr). “Wir sind von der Konzeption überzeugt”. (Ich habe aber nirgendwo gelesen, dass die Grünen- und SPD-Landtagsabgeordneten und -Gemeinderäte ihre eigenen Kinder alle auf die Gemeinschaftsschule schicken würden, die sie als “Schule für alle” propagieren. Sie bevorzugen anscheinend für ihre eigenen Kinder nach wie vor das Gymnasium, die Privatschule oder die Realschule. Von der in Ofterdingen dargestellten “Überzeugung” ist also nicht viel zu sehen.) “Im neuen Bildungsplan zählt vor allem der individuelle Lernerfolg”. Der “individuelle Lernerfolg” ist immer schon an den Werkreal-, Realschulen und Gymnasien ganz klar in Form der Zeugnisnoten für jeden Schüler und seine Eltern verständlich gewesen. Wieso sollen dann diese bestehenden bewährten Schulformen abgeschafft werden?
An der Burghof-Schule haben sich übrigens im zweiten Jahr seit der Einführung der Gemeinschaftsschule für das laufende Schuljahr nur sieben neue Schüler angemeldet (SCHWÄBISCHES TAGBLATT, 9. April 2015). Das reichte nicht mal zur Bildung einer Klasse aus. Die ständige massive, jetzt in Ofterdingen wiederholte Propaganda für die Gemeinschaftsschule hat offenbar wenig Überzeugung bei Schülern und Eltern bewirkt. Die Wirklichkeit sieht also anders aus. So sind die Darstellungen in der neuen Werbeveranstaltung in Ofterdingen nur ein theoretisches Wunschbild.
P.Weinmann, Reutlingen
Anmerkung d. Red.: In der Gemeinschaftsschule müssen keine Noten gegeben werden. Allerdings können Eltern die “Übersetzung” des Leistungsstands ihrer Kinder in Noten verlangen. In jedem Fall gibt es differenzierende Beurteilungen über den individuellen Entwicklungs- und Leistungsstand der Schüler. In den Abschlussklassen sind Noten verpflichtend.
GEMEINSCHAFTSSCHULE, EIN GUTACHTEN:
Dafür haben wir die Realschule gekippt?
Dafür wird so ein Fass aufgemacht?
Die Forscher fördern Binsenwahrheiten zu Tage und lassen die Luft gründlich aus all den ideologischen Überhöhungen:
>> Gute Lehrer braucht das Land
Die Gemeinschaftsschule ist nicht besser und nicht schlechter als andere Schulen. Zu diesem Fazit kamen 31 Bildungsforscher aus acht Hochschulen nach zweieinhalbjährigen Studien. Und noch eine weitere Erkenntnis haben sie in dieser Zeit gewonnen: Wie gut oder wie schlecht der Unterricht ist, das hängt vom Lehrer oder der Lehrerin ab. <<
E. Gumrich