Mediendozentur: An der Schwelle zur Unsicherheit

Vor 1200 Zuhörern appellierte der Wissenschaftsautor Ranga Yogeshwar, die Zukunft und die künstliche Intelligenz mit Haltung zu gestalten. Was wollen wir, was nicht?
Lasst uns darüber nachdenken!

Kameras erkennen Gesichter und Orte, speichern unsere Biografie; ein Satellit leitet unser Auto zum richtigen Ziel und weiß, wo wir anhalten; das Armaturenbrett erkennt unsere Müdigkeit und warnt; ein Pupillen-Verfolger registriert am Handy unsere Vorlieben oder Irritationen, um das Angebot zu verbessern. Und das schon seit Jahren.
Wir nehmen es gerne an, wenn es uns nützt. Aber das Schlagwort “Künstliche Intelligenz” gilt vielen trotzdem als gruslige Schimäre. Studenten (alle mit Handys in der Hand) besetzen Hörsäle gegen den Mythos vom “großen Bruder”, der schon lange Wirklichkeit ist. Wichtiger wäre, Regeln und Rahmen für den Eingriff in die Privatsphäre zu schaffen.


Künstliche Intelligenz: Wer programmiert wen? Der Mensch die Maschine? Oder die Maschine den Menschen? Seinen Lagebericht anlässlich der 16. Tübinger Mediendozentur illustrierte Yogeshwar mit Beispielen und Bildern aus den KI-Zentren in China oder den USA. Ist das Klavierstück, das man hört, von einem Menschen oder vom Computer komponiert? Auch die Zuhörer im Saal waren sich bei den eingespielten Hörproben unsicher und deshalb umso empfänglicher für eine von Yogeshwars zentralen Botschaften: “Machen Sie sich klar, dass wir anfangen, unsicher zu werden. Wir stehen an einer Schwelle, wo die Differenzierung von Mensch und Maschine uns schwerfällt.” Für die nächste Generation wird es selbstverständlich sein, mit Maschinen zu reden.

Das Markenzeichen des Buchautors und Moderators (“Quarks & Co.”) ist es, dass er mit unaufgeregter Stimme und in einem Tonfall, als würde er gerade über das morgige Wetter plaudern, Szenarien entwerfen kann, die man sich vielleicht in Science-Fiction-Romanen vorstellen mag, aber nicht im eigenen Leben. E-Books etwa, die mit Eye-Trackern arbeiten, um am Ende der Seite umzublättern, können auch allerhand anderes an Augenbewegungen ablesen. “Und in Kapitel 14 ruft dich dann dein E-Book an” – weil es von einer Pharmafirma als Diagnose-Tool eingesetzt wird und Anzeichen einer beginnenden Parkinson-Erkrankung erkannt hat. “Einen Termin beim Neurologen hat es auch schon vereinbart.”

“Die Technik ist verfügbar.” Sei es Gesichter-Erkennung oder intelligente Prothesen, DNA-Analyse oder Smart Homes. Ranga Yogeshwar, der in seinem vor-medialen Leben Elementarteilchen-Physiker war, ist jemand, der neue Technologien nicht nur verständlich erklären kann. Er kann sich auch für sie begeistern – für all das, was sie eben auch möglich machen: Parkinson früh erkennen, weil das Smartphone in der Tasche erste Bewegungsunsicherheiten aufzeichnet. Mit dem Eye-Tracker erkennen, wann ein Pilot wichtige Kontroll-Instrumente übersieht und unaufmerksam wird.

In der 4,5 Milliarden Jahre währenden Evolution der Lebewesen, so erklärte Yogeshwar, gab es immer wieder Wendepunkte. Die einen Arten starben aus – so wie die Dinosaurier – und ermöglichten die Entwicklung neuer Arten, in diesem Fall der Säugetiere. Was bringt der nächste Wendepunkt? “Wann überholt uns die Maschine? Werden wir zur Co-Existenz? Werden wir uns bald fühlen wie dieses Tier?” fragte Yogeshwar und blendete ein Fossil ein: “Das war eine Art Flughuhn.”

Rasante Entwicklungen in der Elektronik und der Software haben zu einer deutlichen Aufholjagd der Maschinen geführt, wie Yogeshwar erklärte: Wenn es etwa darum geht, Tumore in Röntgenbildern zu erkennen, ist die Maschine mittlerweile mindestens gleich gut wie der Mensch. Dass künstliche Intelligenz bereits “in den Alltag diffundiert” ist, steht für Yogeshwar außer Frage. Oft sei das zum Vorteil des Menschen. Was ihn allerdings “nicht nur aufregt, sondern empört”, ist, dass die Politik bislang kaum darauf reagiere. Die Technik ist da – und es wäre höchste Zeit, die Rahmenbedingungen zu gestalten, wie diese das Leben verändert, man müsse “mit reflektierter Haltung diesen Fortschritt gestalten”.

Erregungsbewirtschaftung
Stattdessen zerfalle die Gesellschaft immer weiter in Echo-Kammern und Zirkel, in denen sich nur noch Gleichgesinnte dieselben Meinungen zuspielen. Während die Auflagen der Tageszeitungen beständig sinken, wächst die Kommunikation in den sozialen Medien, die diesen Namen für Yogeshwar eigentlich gar nicht verdient haben. “Die sind nicht an Wahrheit interessiert, sondern an Erregungsbewirtschaftung. Wir ersticken in einem Nebel der Unwahrheiten.” Dabei brauche man “Plattformen der Gemeinsamkeit”. Nur so könne die Stabilität in einer pluralistischen Demokratie hergestellt werden: “teilen, aushandeln, Kompromisse finden”.

Wer hat Zugangsrecht zu den Daten? Will man wirklich, dass auch künftig Polizei-Daten auf Amazon-Servern liegen? Sollen Bewegungsdaten aus den Handys an Versicherungen geliefert werden? Wer joggt bekommt günstigere Tarife? “Wollen wir das?” Viele Fragen. Und fast alle enden mit dem Ranga-Yogeshwar-Satz: “Da müssen wir mal drüber nachdenken.”

Aus: Schwäbisches Tagblatt, 22. Mai 2019